01.04.2008/ 00:00
SEKTEN: Zuflucht vor der Apokalypse
In einem Erdloch an der Wolga warten Verblendete auf den Weltuntergang
MOSKAU - Am Einstieg in die Unterwelt warten Ambulanzen mit abgedunkelten Scheiben, Katastrophenschützer reichen Bretter zum Abstützen der Wände durch den Lüftungsschacht, andere versuchen, Schmelzwasser abzuleiten, um die Flutung eines unterirdischen Tunnelsystems zu verhindern. Dort unten hatten im vergangenen Herbst 35 Mitglieder der „Wahren Orthodoxen Kirche“, darunter vier Kinder, Zuflucht vor dem Weltuntergang gesucht.
Den erwarten die Apokalyptiker zwar erst für Mai, doch Gott riss offenbar schon vorfristig die Geduld mit seinen irregeleiteten Lämmern: Teile der Höhle stürzten am Wochenende unter dem Druck tauenden Schnees ein und zwangen sieben Frauen zurück in die Oberwelt. Verhandlungen, die Beamte und Psychologen seither mit dem Rest der Gemeinde führen, brachten am Sonntag nicht den erwarteten Durchbruch: Frühestens zum orthodoxen Osterfest am 27. April will die Sekte ihre Fluchtburg verlassen. Wenn überhaupt. Denn die Vorräte reichen angeblich, um eine mehrjährige Belagerung zu überstehen. Zwar war im November kurzzeitig von Sturm durch Spezialeinheiten die Rede, doch derartige Pläne ließen die Geheimdienste fallen, als bekannt wurde, dass die Sektenmitglieder neben Honig, Sonnenblumenkernen, Graupen und was sonst noch für eine vegane Ernährung gebraucht wird, auch Kerosin-Fässer in die Höhle geschleppt hatten, um das Jüngste Gericht notfalls selbst zu vollstrecken.
Schauplatz des Dramas ist Nikolskoje bei Pensa an der Wolga. Bereits vom Aussterben bedroht, wurde es vor knapp zwei Jahren zum Wallfahrtsort. Hunderte pilgerten aus allen Teilen Russlands in das Dörfchen, um dort den Predigten von Pjotr Kusnezow zu lauschen und ihm beim Ausheben eines Tunnelsystems 44 Meter unter der Erde zu helfen. Dort sollte die Gemeinde den Weltuntergang abwarten. Bei streng veganer Ernährung, ohne Strom und ohne heißes Wasser. Beides hatte Kusnezow als Teufelszeug verdammt. Dazu auch Bildung, Telefon, Internet, Geld und Strichcodes auf Lebensmitteln. Erlösen könne die Menschheit nur die Rückkehr zum Urchristentum. Unbelehrbare erwarte das Jüngste Gericht. Den Lokaltermin im Mai hatten ihm angeblich die Sterne verraten. Er selbst wollte der Katastrophe offenbar lieber in der Oberwelt ins Auge sehen. Im November wurde er in eine geschlossene Psychiatrie eingeliefert.
Unter den Sektenmitgliedern, so Boris Kulagin, der für das Gebiet Pensa in der Duma sitzt, seien sogar ehemalige Militärs, die auch Waffen besitzen. Offenbar waren sie es, die jüngst aus dem Lüftungsschacht auf Parlamentäre feuerten, die zum Verlassen der Höhle aufforderten.
Die Sekte und deren apokalyptische Wahnideen kommen Kreml und Regierung zur Unzeit. Mit beidem glaubte man fertig zu sein, als das Land sich Ende der Neunziger aus dem Chaos der Wendezeit berappelte. Jetzt tummeln sich in Russland erneut Hunderte von totalitären Sekten. Experten wie Stanislaw Belkowski vom Institut für nationale Strategie machen dafür Unsicherheit und Zukunftsangst verantwortlich.
Auch die Orthodoxe Kirche ist am Wiederaufleben der Sekten nicht unschuldig. Auf das Jenseits fixiert, hat sie sich mit der komplizierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und deren sozialen Ungerechtigkeiten nie ernsthaft auseinandergesetzt. (Von Erich Wiesner)
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